Haumann, Heiko (Hrsg.): Acht Jahrhunderte Juden in Basel. 200 Jahre Israelitische Gemeinde Basel. Basel 2005 : Schwabe Verlag, ISBN 3-7965-2131-2 313 S. € 26,50

: Geschichte der Juden im Kanton Zürich. . Zürich 2005 : Orell Füssli Verlag, ISBN 3-280-06001-X € 36,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Petry, Institut für Jüdische Studien, Universität Basel

Obwohl seit Ende der 1990er-Jahre in der Schweiz intensiv über die eigene Geschichte vor allem in den Jahren 1933-1945 gestritten und dabei auch immer wieder das Verhältnis der nichtjüdischen zur jüdischen Bevölkerung thematisiert wird, ist die Zahl der Veröffentlichungen zur jüdischen Geschichte in der Schweiz überraschend gering.1 Nun liegen mit „Acht Jahrhunderte Juden in Basel“ und „Geschichte der Juden im Kanton Zürich“ zwei neue Publikationen vor, die auf den ersten Blick mit einem grossen Narrativ arbeiten, das eigentlich in der Geschichtswissenschaft allgemein nur noch selten Verwendung findet. Es stellt sich daher die Frage nach dem Erkenntnisgewinn solcher Werke.

Der von Heiko Haumann aus Anlass der 200-Jahr Feier der Israelitischen Gemeinde Basel und der seit acht Jahrhunderten, allerdings mit grossen Unterbrechungen, in Basel lebenden jüdische Gemeinschaft herausgegebene Sammelband macht es sich zur Aufgabe, nicht nur eine Beschreibung jüdischen Lebens in Basel zu liefern, sondern auch die Kontinuitäten und Widersprüche, die Traditionen und Brüche aufzuzeigen. „Jubiläumsbücher“ neigen leicht dazu, in eine apologetisch-positivistische Ausschmückung der Chronologie zu verfallen. Sie machen dann denen Freude, die sich selbst, ihnen bekannte Personen oder ihnen vertraute Ereignisse darin finden, sind aber für ein allgemeines Publikum von nur geringem Wert. Hiervon hebt sich die vorliegende Publikation gleich in mehreren Bereichen erfreulicherweise ab: Die Autoren und Autorinnen der einzelnen Beiträge sind ausgewiesene Spezialisten auf ihrem Fachgebiet, und die Aufteilung in Überblicksaufsätze und einzelne Fallstudien („Schlaglichter“) muss als sehr gelungen bezeichnet werden, gestattet diese doch, neben dem generellen Blick, auch eine sehr vertiefte Einsicht in die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Basel. Ein dritter positiver Punkt sind die im Anhang beigefügten 49 Quellentexte, die sich auf die Artikel beziehen und auf die an entsprechender Stelle im Text hingewiesen wird.

Das Grundgerüst des Buches bilden vier ausführliche Artikel: Werner Meyers fundierter Überblick über die Geschichte der Juden in Basel von 1200 bis 1800, Heiko Haumanns erhellende Darstellung der Geschichte des 19. Jahrhunderts, Hermann Wichers eindrückliche Beschreibung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und Simon Erlangers Resümee über die „ungebrochene Kontinuität“ der Israelitischen Gemeinde seit 1945. Dazwischen verlassen kürzere Artikel anderer AutorInnen das Metanarrativ und demonstrieren exemplarisch Entwicklungen, die die jüdische Gemeinschaft in Basel geprägt haben, so z.B. eine für das Verständnis des jüdischen Lebens in der Rheinstadt wichtige Episode aus dem Jahre 1815 sowie die Zeit um 1900, die für das jüdische Basel von drei wichtigen Themen bestimmt war, der Zuwanderung der Ostjuden, den Zionistenkongressen und einem Antisemitismus, der sich aus dem populistischen Schüren der „Überfremdungsangst“ erklärt. Schliesslich beleuchten auf jeweils zwei bis fünf Seiten sogenannte „Schlaglichter“ so unterschiedliche Bereiche wie das jüdische Leben in der Region Basel, die archäologischen Ausgrabungen am ersten Basler Judenfriedhof, das religiöse Leben, Flüchtlingsschicksale, das jüdische Lehrerseminar und Juden und Jüdinnen in der Politik Basels. Die sorgfältige Herausgeberschaft macht aus diesem Buch eine sehr lesenswerte und zugleich lesbare Darstellung, die nicht nur der interessierten Öffentlichkeit einen Einblick gewährt. Der Aufbau ermöglicht es auch, einzelne Artikel und Quellen in Schulunterricht, Studium oder in der Erwachsenenbildung einzusetzen.

Die Darstellung des jüdischen Lebens in Zürich folgt einem anderen Schema. Drei Autorinnen widmen sich in chronologischer Reihenfolge der Geschichte der Juden im Kanton Zürich. Allen Artikeln ist eine kurze, sehr allgemein gehaltene Einführung voran- und ein Überblick über Quellenlage und Forschungsstand nachgestellt. Ziel der Publikation sei es, so die Autorinnen in der Einleitung, Prozesse, Abläufe und Strukturen deutlich zumachen, es werde aber kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.

Annette Brunschwigs Darstellung über die Zeit vom 13. Jahrhundert bis zum Ende der Restauration (1830) teilt sich in zwei Ebenen, einer traditionell-deskriptiven Abhandlung der Geschehnisse der Zeit sind biografische Darstellungen jüdischer Bewohner Zürichs und Kapitel zu bestimmten Themen (z.B. „Dienstboten“, „Kinder“, aber auch übergreifende Themen wie „Sexuelle Beziehungen“) beigefügt. Gerade diese zweite Ebene macht das Kapitel über das Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit lesenswert, weil hier ein lebensweltlicher Blick geworfen wird auf die Menschen und ihre Beziehungen untereinander. Dies führt zu neuen Einsichten in das jüdische Leben in der Stadt und im Kanton Zürich, während der historiografische Teil eher den Eindruck erweckt, dass man zwar mehr Details über jüdische Bewohner erfährt, der schon bekannte Eindruck aber bleibt, dass sich die Stadt Zürich in ihrem Verhalten der jüdischen Bevölkerung gegenüber nicht sehr von anderen Städten unterscheidet. So wurden zum Beispiel auch in Zürich 1349 die Juden verbrannt, zahlten auch in Zürich die Juden im 15. Jahrhundert eine höhere Steuer, wurde in der Frühen Neuzeit eine konsequent antijüdische Politik von den Stadtoberen betrieben und war die jüdische Bevölkerung im Mittelalter nicht unwesentlich an der Entwicklung einer urbanen Ökonomie beteiligt.

Die Zeit zwischen 1830 und dem Ersten Weltkrieg, die einschneidende Veränderungen für das jüdische Leben in Zürich brachte, wird von Ruth Heinrichs eindrücklich in einer dichten und sehr gut lesbaren Darstellung zusammengefasst. Der Kampf um die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit, der geprägt war von vielen Rückschlägen, zeigt dabei, dass es vor allem des herausragenden Einsatzes einzelner Personen bedurfte, um die Politik zu verändern. Dabei werden die Interventionen des Auslands (insbesondere Frankreich und die USA) für ein freies Niederlassungsrecht geringer gewichtet als der Einfluss von Persönlichkeiten wie Pfarrer Gottlieb Ziegler und der Endinger Religionslehrer Markus Getsch Dreifus, deren Engagement letztlich zur vergleichsweise frühen Emanzipation in Zürich geführt habe. Der Geschichte der vollständigen rechtlichen Gleichstellung stellt Ruth Heinrichs die Entwicklung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) an die Seite. Trotz des Erreichens der rechtlichen Emanzipation endete das 19. Jahrhundert für die jüdische Gemeinschaft in Zürich doch mit grossen Auseinandersetzungen: So wurde die Abstimmung über das Schächtverbot 1893 zu einem ersten Signal des sich auch in der Schweiz manifestierenden Antisemitismus, gleichzeitig erlebte die ICZ eine tiefe Krise über ihre religiöse Identität, die 1896 zur Spaltung der Gemeinde führte. Dieser Abschnitt gewährt einen analytisch-kenntnisreichen Blick und hebt sich wohltuend von rein positivistischen Darstellungen ab. So gelingt es ihr sehr gut, die verschiedensten Akteure der Zeit einzuführen und ihre Handlungen in den Fluss der Ereignisse einzuweben, Metanarrativ und lebensweltliches Handeln und Erleben des Individuums werden so synthetisch verbunden.

Der dritte Teil der Darstellung, der vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht, wurde von Karin Huser verfasst, die schon durch ihre Arbeit über Ostjuden in Zürich bekannt geworden ist. Die Autorin liefert in diesem Teil eine veritable Fleissarbeit mit grosser Detaildichte. Das Problem, eine intensive Zeit mit sehr vielen Ereignissen in eine komprimierte Darstellung zu bringen, ist dabei nicht immer glücklich gelöst. Oft gleitet die Darstellung ins aufzählend-lexikalische ab, hier wäre der „Mut zur Lücke“, den die AutorInnen noch im Vorwort in Anspruch nehmen, angebracht gewesen. Zwar werden die zusammengetragenen Namen und Fakten in thematische Gruppen eingeordnet, doch leidet die Darstellung unter sperriger Lesbarkeit und geringer analytischer Tiefe. So ist z.B. nach dem steilen Aufstieg der Frontisten ihr rapider Niedergang in den städtischen Kommunalwahlen 1938 erklärungsbedürftig (S. 357). Auch gerät in diesem Kapitel die Definition des „Jüdischen“ in ein zweifelhaftes Licht, wenn von einem Offizier in den 1930er und 1940er-Jahren berichtet wird, der getauft war, halachisch nicht jüdisch, aber aufgrund seines „offensichtlich jüdischen Familiennamens“ (Constam 2) als „jüdisch wahrgenommen“ wurde, damit in das Buch kommt und als Referenz für das Jüdischsein Constams eine Notiz in einer Veröffentlichung der Wehrmacht (sic!) angegeben wird (S. 357).3 Das Buch wird abgerundet durch einige Stammbäume jüdischer Zürcher Familien, eine Liste der Rabbiner und Präsidenten der Gemeinden sowie eine Zeittafel.

Es wird aus der Besprechung deutlich, dass sich beide Bücher zwar einem ähnlichen Gegenstand widmen, der Geschichte der Juden in einer Stadt bzw. einem Kanton, dies aber höchst unterschiedlich angehen. Beide Ansätze sind methodisch durchdacht und werden grösstenteils dem selbstgewählten Anspruch gerecht. Aber wie kann nun die zu Anfang gestellte Frage nach Sinn und Unsinn solcher Werke beantwortet werden? Nach der Lektüre beider Darstellungen muss man sagen, dass es in der jüdischen Geschichte, besonders in der Schweiz, dieser grossen Narrative noch dringend bedarf, da damit die Basis für das übergreifende Verständnis der Geschichte der Juden gelegt wird. Da sich beide Darstellungen nicht auf den positivistischen Ansatz verlassen, sondern versuchen, die lebensweltlichen Ansätze einfliessen zu lassen, werden sie so auch modernen Anforderungen an eine Überblicksgeschichte gerecht.

Anmerkungen:
1 Genannt seien: Angst, Doris; Weingarten, Ralph; Guggenheim, Willy (Hgg.), Juden in der Schweiz. Glaube, Geschichte, Gegenwart, Küsnacht 1982; Huser Bugmann, Karin, Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880-1939, Zürich 1998; Kupfer, Claude; Weingarten Ralph, Zwischen Ausgrenzung und Integration.Geschichte und Gegenwart der Jüdinnen und Juden in der Schweiz, Zürich 1999; Kury, Patrick, „Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!“ Ostjudenmigration nach Basel 1890-1930, Basel 1998; Mattioli, Aram (Hg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848-1960, Zürich 1998; Picard, Jacques, Die Schweiz und die Juden 1933-1945, Zürich 1994; Roschewski, Heinz, Auf dem Weg zu einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein? Geschichte der Juden in der Schweiz 1945-1994, Basel 1994; Weldler-Steinberg, Augusta, Geschichte der Juden in der Schweiz. Vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation, 2 Bde., Zürich 1966 und 1970.
2 Der Name leitet sich laut Historisches Lexikon der Schweiz (Artikel über Emil Josef Constam, vgl. http://www.lexhist.ch/externe/protect/textes/d/D43591.html) vom Namen Kohnstamm ab. Ob Constam in Zürich tatsächlich als „jüdischer Familienname“ gehört wurde, wäre noch zu prüfen.
3 Dass in dieser Sache wohl eher die „Wahrnehmung als jüdisch“ das Problem ist, hätte zumindest angesprochen werden müssen. Dass Herbert Constam heute als Beispiel für eine Schweizer Armeeführung im Zweiten Weltkrieg dient, die frei von Antisemitismus gewesen sei, weil man Constam, der „jüdischer Abstammung“ gewesen sei, zum Oberstkorpskommandant befördert habe, erscheint nicht minder problematisch und wirft die Frage auf, ab wann eine Person selbst bestimmen kann oder ab wann Politik und Wissenschaft mit fragwürdigen Definitionen arbeiten, vgl. Militärakademie an der ETH Zürich, Schriftenreihe, Nr. 1. 2003, http://www.milak.ethz.ch/Publikationen/Diverses/Schriften_Nr1_1.pdf, S. 5.

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